Mathematik-Vorlesungen neu denken
Im Sommersemester 2021 hat die Universität Trier mit den Ghostthinkern ein innovatives Anwendungsszenario von Social Video Learning im Hochschulkontext pilotiert. Die Erkenntnisse daraus legen nahe, das Konzept im nächsten Semester einfach mal “auf den Kopf zu stellen”...
Digitale Lehrformate haben durch die Corona-Pandemie einen rasanten Aufschwung an Hochschulen erfahren. Nach den ersten Monaten, in denen technologische Herausforderungen überwunden und neue Routinen entwickelt wurden, werden nun die Konzepte auf ein neues Level gehoben. Wie können Feedback und Interaktionen zwischen Studierenden und Lehrenden gefördert werden? Wie können Studierende relevanten Einfluss auf die Gestaltung von zukünftigen Übungen und Vorlesungen nehmen?
Diese Fragen stellte sich auch Prof. Dr. Martin Schmidt, Mathematikprofessor an der Universität Trier. In seiner Lehrpraxis sieht er die besondere Herausforderung, dass Studierende aufgrund einer engen zeitlichen Taktung in Vorlesungen wenig Möglichkeiten haben, Verständnisfragen zu äußern. Dies erschwert nicht nur einen nachhaltigen Wissensaufbau seitens der Studierenden, sondern lässt auch Lehrende im Ungewissen über das Verstehen/Nichtverstehen ihrer Vorlesungen.
Gemeinsam entwickelten Dr. Frank Vohle, Gründer und Geschäftsführer der Ghostthinker GmbH, und Prof. Dr. Martin Schmidt ein neues Lehrformat auf Basis unserer Lehr-Lern-Methode Social Video. Kern davon ist, dass Studierende via App während einer Online-Live-Vorlesung zeitmarkengenaue Kommentare erstellen und Verständnisprobleme mit visuellen Tags sichtbar machen können. Die mit Kommentaren und Markierungen versehenen Vorlesungsaufzeichnungen dienen der asynchronen Nachbereitung sowie als Feedback für den Lehrenden.
Das Konzept wurde im Rahmen eines Pilotprojekts in der Vorlesung “Nichtlineare Optimierung” im Sommersemester 2021 erprobt. Mit interessanten Ergebnissen: Die Interaktionsmöglichkeiten in den Videos wurden von den Studierenden in der Theorie willkommen geheißen. In der Praxis hingegen setzten sie sehr wenige Videokommentare und visuelle Tags. Entsprechend schöpften die Studierenden die Mehrwerte von Social Video für die eigene Nachbereitung noch nicht aus und lieferten auch dem Professor kein hinreichendes Feedback als Grundlage für die weitere Übungs- und Vorlesungsgestaltung.
Was auf den ersten Blick ernüchternd wirken mag, wirft bei genauerer Betrachtung Licht auf eine tiefer verwurzelte Problematik: eine schwach kultivierte Frage- und Beteiligungskultur der Studierenden sowie unzureichende sozio-psychologische Komponenten in der Hochschuldidaktik. Diese wichtigen Erkenntnisse liefern den Nährboden für ein didaktische Re-Design des Lehrformats mit Social Video für das Wintersemester 2021/22. Unter anderem wird ein “Flipped Classroom”-Konzept eingeführt, dass den Studierenden mehr Interaktionsraum bieten wird.
Das spannende Pilotprojekt an der Universität Trier zeigt einmal mehr: Für eine wirksame Nutzung von Social Video spielen mehr Faktoren als “nur” die Technologie eine bedeutende Rolle. Es muss eine interaktive, kooperative und offene Lernkultur geschaffen und mit den passenden didaktischen Konzepten bespielt werden. Das Projekt an der Universität Trier sehen wir keinesfalls als Scheitern, sondern als Impuls für alle Beteiligten, didaktische und kulturelle Aspekte in der Hochschullehre weiterzuentwickeln. Wir sind gespannt auf das kommende Semester und weitere Projekte dieser Art!
Alle Details zum Pilotprojekt und den geplanten Anpassungen für das kommende Semester findest du in dem Artikel “Mathematik-Vorlesungen neu denken: Vom didaktischen Design zu Design-Based Research” von Prof. Dr. Martin Schmidt und Dr. Frank Vohle, das im hochschuldidaktischen Journal "Impact Free" veröffentlicht wurde.
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